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. Gemeindeteil Deetz
Deetzer Ortsgeschichte
Deetz wird erstmals 1193 als detiz schriftlich erwähnt. Der ursprünglich markgräfliche Besitz ging 1297
an das Zisterzienserkloster Lehnin. Nach Auflösung des Klosters ging Deetz ans Amt Lehnin über. Durch die Lage an der
Havel mit einer seit 1438 nachgewiesenen Fähre war das Bauern- und Kossätendorf frühzeitig bedeutungsvoll für Handel und
Schifferei. Da Deetz abseits der Heeresstraße (heutige B1) lag, blieb der Ort im 30jährigen Krieg weitgehend von Plünderungen
verschont. 1631 wurde die Bevölkerung durch eine Pestepidemie stark dezimiert. Seit 1801 gab es eine Windmühle und eine
Schmiede. Das Dorf bestand aus 46 Bauern-, Fischer- und Büdnerstellen. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr Deetz
durch die sich entwickelnden Ziegeleien einen deutlichen Aufschwung. 1870 gab es am Ortsrand sechs Ziegeleien: Hornemann,
Voigt, Ernst, Thietke und Rudolf Neumann sowie eine Ziegelei des Berliner Bauvereins. Damals stieg die Einwohnerzahl sprunghaft von
557 im Jahr 1858 auf 1291 im Jahre 1905. Der Ort Deetz ist bis heute durch die stattlichen Villen der Ziegeleibesitzer
geprägt; außerdem prägten die Unternehmer über viele Jahre die Geschicke des Ortes als Dorfschulzen und Bürgermeister.
Auch die Deetzer Bauern waren durch die besondere Fruchtbarkeit der Böden wohlhabend.
1945 wurden die Ziegeleien, das Gut und die großen Bauernwirtschaften enteignet und später dann eine LPG gegründet. Seit der Wende
1990 ist Deetz vor allem Touristen- und Naherholungsort durch seine exponierte Lage an der Havel, den auf dem Gelände der
ehemaligen Neumannschen Ziegelei errichteten Yachthafen und die aus den alten Ziegeleigruben entstandenen Erdelöcher.
Über Deetz führt der Havel-Radwanderweg. Heute leben gut 1.000 Menschen in Deetz.
Die Deetzer Kirche
Ihre heutige Gestalt verdankt die Kirche einem umfassenden Um- und Anbau in den Jahren 1901/1902 unter
Baurat Köhler und Architekt Ludwig von Tiedemann. Entstanden ist der Kirchbau bereits im 15./16. Jahrhundert und gehörte
bis zu dessen Säkularisierung im Jahre 1542 als Filialkirche zum Kloster Lehnin. Durch die Erweiterung Anfang des 20.
Jahrhunderts hat die Kirche ein völlig neues Gesicht bekommen und wird trotz Einbeziehung älterer Teile praktisch als
Neubau wahrgenommen. Die Erweiterung war nötig geworden, da die Gemeinde seit den 1860er Jahren von 500 auf 1.200 Glieder
angewachsen war und die Kirche nur Raum für ca. 250 Menschen bot. Der Feldstein-Turm wurde um zwei Stockwerke in
Ziegelsteinbauweise (rote Klinker) aufgestockt und mit stattlichen Blendgiebeln versehen. Außerdem wurde die Kirche um
die runde Apsis erweitert, und es wurden die beiden Seitenschiffe im Süden und Norden (letzteres mit Empore) angebaut.
Auch im Inneren erfuhr die Kirche einen kompletten Umbau. Die Fenster wurden rundbogig erweitert und erneuert, das Dach
zu einem stattlichen Satteldach (Holzkonstruktion) umgebaut. Außerdem erhielt die Kirche eine neue Innenausstattung:
Die Türen stammen aus der Umbauphase von 1901/02, ebenso die bunten Glasfenster (aus der Glasmalerei Busch in Berlin-Schöneberg),
ein Klappaltar mit Mosaikretabel und Kronleuchter (beide seit 1964 verschollen), die Kanzel, der Taufstein
und die Orgel aus der Werkstatt Albert Hollenbach (Neuruppin) im Geiste des Eisenacher Regulativs. Außerdem erhielt die
Kirchen eine bunte Innenraumfassung, in der Apsis ganzflächig sowie in den Fensterleibungen und an den Säulenabschlüssen.
In den 60er Jahren wurde die Kirche unter dem unzutreffenden Begriff
„Renovierung“ wesentlicher Teile ihrer Inneneinrichtung beraubt sowie das sich in Kanzel, auf Holzbalken und an den
Wänden dokumentierende wertige Farbprogramm durch Auftragen unschöner monochromer Anstriche (Apsis, Kirchenschiff und
Gestühl) zerstört oder überstrichen. Die Kirchengemeinde hat im Jahr 2020 begonnen, die ursprüngliche Gestalt der
Kirche aus der Umbauphase 1901/02 wieder zur Geltung zu bringen. Im ersten Bauabschnitt werden nach erfolgter
Dachsanierung die Apsisfenster nach altem Vorbild erneuert sowie eine Restaurierung der Apsismalerei nach
farbrestauratorischer Untersuchung begonnen.
Die ursprünglichen Glocken der Deetzer Kirche (von 1500 und 1678) wurden im 1. Weltkrieg abgeliefert; das jetzige
Dreiergeläute stammt aus dem Jahr 1919.
Andacht zum Deetzer Adventsmarkt 2018
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Wer ist der erste. Heute vor einer Woche, da ging es los. Da fing
mein Nachbar an zu werkeln. Zog Kabel, knüpfte und hämmerte, den ganzen Nachmittag. Und am Abend dann, da schien es hell
zu mir herüber: das Licht des Adventssterns. Heute vor einer Woche, am Vorabend von Totensonntag.
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Und mein Nachbar hat das Rennen gewonnen, jedenfalls in meiner Straße.
Ich war noch längst nicht so weit. Habe zur selben Zeit die Kerzen für die Totensonntags-Gottesdienste sortiert. Jede Kerze für
einen Menschen, um den getrauert wird. Ganz dicht waren meine Eindrücke aus den Familien, die keinen Weihnachtsbaum
aufstellen wollen, weil ein geliebter Mensch in ihrer Mitte fehlt.
Ich habe das Rennen verloren, weil ich der Trauer Raum geben wollte. Die ganze letzte Woche war geprägt von dem,
was wir am letzten Sonntag erlebt haben: Tränen an Gräbern. Aber auch das tröstende Wort: Das hier ist nicht alles,
da kommt noch was. Ich wische die Tränen von euren Augen. Tränen kann man nur abwischen, wo Tränen sind.
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde, steht in der Bibel. Weinen
hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit. Und ich bin mir sicher: Auch das Warten hat seine Zeit.
Das Hämmern bei meinem Nachbarn ist längst verklungen. Hell strahlend schaukelt der Stern vor sich hin, im
Stelldichein mit dem funkelnden Glanz der Lichterketten. Aber in mir, da hämmert noch etwas. Nicht hörbar,
aber spürbar. Es hämmert, es klopft: Da kommt doch noch was. Da kommt doch einer!
Da kommt einer, der bei mir anklopft. Genug gewartet. Mach dich auf den Weg. Heute Vormittag, da habe ich
meinen Stern auch rausgehängt. Denn jetzt ist es an der Zeit. Der Advent beginnt. Eine schöne Zeit. Da ist
Bewegung drin. Der erste, der sich aufmacht, ist Gott selbst. Macht sich auf den Weg zu uns. Das ist das
Klopfen. Mach deine Tür auf, ich komme, ich bin fast da.
Gott hat sich auf den Weg gemacht. Sein Ziel ist mein Herz. Und dann bin ich dran. Andere haben mir vorgemacht,
wie das geht: Alles stehn und liegen lassen, wenn es an der Zeit ist. Aufstehn und losgehn, das Ziel vor Augen,
von dem die Engel gesprochen haben. Die Hirten waren die ersten. Einfache Leute mit einem großen Herz. Und zur
selben Zeit haben sich weise Männer und Könige auf den Weg gemacht. Immer dem Stern hinterher.
An Sternen mangelt es uns wahrlich nicht. Ob sie nur Deko sind oder ob ich mich von ihnen aufrütteln lasse, das
entscheide ich selbst. Drei Wochen Zeit ist mir jetzt dafür geschenkt. Zeit, zu mir selbst zu finden und mich dann
hineinnehmen zu lassen in eine Bewegung, hin zur Krippe.
Es ist kein Wettlauf mit der Zeit. Das Ziel ist nicht, der erste zu sein. Das Ziel heißt schlicht und einfach:
Ankommen. Advent heißt ja nichts anderes als: Ankommen. Ankommen da, wo schon einer wartet: Gott. Denn: Da klopft
noch etwas. (Amen)
Trauerrede für Ingeborg Neumann
Ingeborg Neumann war die Tochter des letzten Deetzer Ziegeleibesitzers Rudolf Neumann,
die bis zu ihrem Tod im Jahr 2018 in Deetz lebte.
Ein Mann steht draußen vor der Tür seines Hauses. Fein gekleidet, in Anzug mit Weste. Geputzte Schuhe, die Zigarre
in der Hand. Guten Tag, meine Damen, grüßt er, als zwei Frauen vorübergehen, die vom Friedhof kommen. Er zückt den
Hut, Chapeau! Und wenn Kinder kommen, dann lächelt er. Kein einfacher Mann, ein Herr. Es ist Werner Neumann. Im Haus
hinter ihm ist Leben. Kindermädchen kümmern sich um den dreijährigen Horst, seinen Neffen, der zu Besuch ist aus Berlin,
mehrere Küchenmädchen sind beschäftigt, Gärtner pflegen die weitläufige Anlage draußen, Mägde und Knechte arbeiten,
der Chauffeur steht bereit. Ein stattliches Haus. Sein Vater hatte es vor 36 Jahren erbauen lassen, für 88.000
Goldtaler: Die Geschäfte liefen von Anfang an gut, er konnte sich das leisten. Eine der großen Ziegeleien hat er
gegründet, und er, Werner hat sie übernommen, führt das Werk seines Vaters fort, hat die Ländereien gemehrt,
Aktien gekauft. Eine Tochter aus gutem Hause geheiratet. Er hatte Sinn für alles Schöne, für Architektur und
Kultur, das hatte er von seinem Vater gelernt. Was zu seinem Glück noch fehlt, sind eigene Kinder. Er liebt
Kinder. Wünscht sich einen Sohn, der das alles hier erben und weiterführen wird. Am liebsten aber ein Mädchen,
denn Mädchen waren bei Neumanns bisher Mangelware.
Der 5. März 1921, ein Samstag. Babygeschrei tönt aus der Neumannschen Villa. Ein Mädchen, Ingeborg. Eine pompöse
Taufe hier in dieser Kirche mit allen Extras, die Liste der Paten: erlesen. Gebührentaufe, so steht es im Taufregister.
Drei Jahre später wird Rudolf geboren. Das Familienglück ist vollkommen.
Ingeborg wächst behütet auf, mit einem warmherzigen Vater und einer strengen Mutter, mit einem Bruder, den
sie über alles liebt und Kindermädchen, die sich um sie kümmern. Mit neun wird sie nach Brandenburg ans dortige
Lyzeum geschickt, dort besucht sie auch den Konfirmandenunterricht. Hier in Deetz wurde sie 1937 konfirmiert
unter dem Spruch Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Sie wechselte dann an
die Reifenstein-Schule in Geiselgasteig in Bayern, eine Landfrauenschule. Keine Schule für einfache Leute, sondern
im Grunde eine höhere Töchterschule, Bildungsanstalt für die Töchter von Adligen und Industriellen, untergebracht
in einer stattlichen Villa, gegründet von Ida von Kortzfleisch. Die sogenannten Maidenzimmer sind nobel möbliert,
dazu die jungen Damen in edlen Kleidern mit weißen Schürzen. Hier lernt Ingeborg Hauswirtschaft, auch Französisch -
und den Schliff für das ihr vorbestimmte Leben. Wenn alles gut geht, findet sie in einem Bruder einer Mitschülerin
den geeigneten Ehemann.
Doch dann kommt der Krieg. Der Vater wird eingezogen, Rudolf wird eingezogen. Beide als Flieger. Werner hatte
schon im ersten Krieg gedient, als Offizier. Er kehrt nach dem Krieg zurück. Rudolf kehrt nicht heim. Was Werner
Neumann zu Hause vorfindet, gleicht einer Katastrophe. Eine Luftmine war in der Straße explodiert, viele der Häuser
stark beschädigt, die Fenster zerbrochen, die Dächer abgedeckt. Werner Neumann konnte durch die Reste der Decke seines
Hauses in den Himmel schauen. Die Russen hatten mitgenommen, was irgendwie beweglich war, aber nicht nur die Russen.
Er versuchte, die Ziegelei neu anzukurbeln, aber der Staat machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Arbeiter
wurden abgeworben, der finanzielle Ruin war unabwendbar. Mit dem finanziellen Ruin ging der soziale Absturz einher.
Ingeborg wohnte zunächst mit ihren Eltern in einem Zimmer in der einst so stattlichen Villa, dem einzigen noch
bewohnbaren Raum.
Das Leben für Neumanns wird anders, grundlegend anders. Ingeborg Neumann hat diese Veränderungen mit Würde getragen,
und alles, was diese Veränderungen mit sich brachten. Irgendwann hat sie für sich selbst entschieden, nicht zu heiraten,
keine Familie zu gründen, sondern sich in Dankbarkeit ihren Eltern zu widmen, diese später zu pflegen. Sie ging arbeiten.
Zunächst bei der Versicherung, beriet die Menschen. Sah in Deetzer Häusern Einrichtungsgegenstände, die in ihr Elternhaus
gehörten. Bewahrte Haltung, trotz allem. Später wechselte sie in die Forschungs- und Versuchsanstalt der Humboldt-Universität
in Groß Kreutz. Erstellte Listen und bearbeitete statistische Erfassungsbögen. Mit weißem Kittel in den Kuhstall. Sie blieb
Dame, sie blieb Fräulein Neumann, ließ sich ihre Würde nicht nehmen. Und war beliebt bei den Kollegen, die anpackende Frau,
immer gut gelaunt, immer fleißig. Mit dem Fahrrad fuhr sie jeden Tag nach Groß Kreutz, ihren Hund immer dabei.
Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Und dieses Licht hat sie so sehr gebraucht in
ihrem Leben, das kein leichtes Leben war. Ein Leben mit Entbehrungen und grundlegenden Veränderungen. Ich gehe nie zur
Kirche, aber ich bin sehr gläubig, hat sie mir einmal gesagt, entschuldigend, aber bestimmt. Sie liebte unsere Kirche
so, wie sie einmal war. Mit Kronleuchtern, die denen in ihrem Elternhaus glichen. Mit dem schmiedeeisernen Ofen, mit
dem kunstvollen neugotischen Altar vorne, mit der Apsis hellblau und mit Sternenhimmel. Wie sieht das hier aus, was
ist denn hier passiert, fragte sie, als sie nach Jahrzehnten im letzten Jahr noch einmal hier in der Kirche war. Sie
hat Gott in der Natur gefunden, auf ihren Wegen in der Umgebung von Deetz, auf ihrer Waldrunde, die sie gegangen ist
bis fast zuletzt. Früher mit ihren Hunden, zuletzt mit dem Rollator, eigentlich eine Überwindung für die aufrechte Frau.
Gott wohnte für sie in jedem Baum, draußen hat sie Ruhe gefunden und Erfüllung und Frieden.
Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Gott als Licht auf unserem Wege. Wer hätte
das nicht nötig? In meinem Inneren spüre ich das, dass ich ein Licht von außen brauche, dann, wenn es in mir dunkel
ist. Wenn Menschen sterben, die ich geliebt habe. Wenn ich es nicht schaffe, Streit zu schlichten, alte Wunden zu
kitten. Wenn ich mit Angst zum Arzt gehe und nicht weiß, was mich erwartet. Wenn Kräfte schwinden, wenn das Wort Alter
nicht hoffnungsvoll klingt, sondern bedrohlich. Wo finde ich Licht für mein Leben? Wo finde ich wahres Leben?
Und das ist die Antwort in der Bibel: Das Licht des Lebens findest du bei Gott. Und das soll erst recht dann gelten,
wenn unsere Lichter dunkel werden und verlöschen, und wenn wir nichts mehr in den Händen haben, an das wir uns halten
könnten, sondern die Hände öffnen müssen und weggeben müssen, was wir doch so gerne halten wollen: jetzt einen lieben
Menschen - und dann einmal ja auch unser eigenes Leben. Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem
Wege.
1978 war für Inge Neumann ein folgenreiches Jahr. Ihre Mutter war schon lange tot, nun starb auch ihr Vater. Sie wusste,
dass sie das Haus allein nicht würde halten können. DDR: Kein Geld, keine Hilfe, kein Baumaterial, keine Handwerker. Für
sie stand die Entscheidung an, nach West-Berlin zu gehen zu ihren Verwandten. Sie entschied sich zu bleiben, zu bleiben
in ihrer Heimat und im Haus ihrer Familie. Übergab das Haus an die Familie der alten Freunde ihres Vaters. Eine
win-win-Lösung, würden wir heute sagen. Sie konnte bleiben. Das Haus war das einzige, was ihr geblieben war. Inge
Neumann konnte sich den Teil aussuchen, den sie bewohnen wollte. Durfte erleben, wie er saniert wurde. Konnte ihren
Lebensstil bewahren. Ihren Sinn für schöne Möbel, elegante Kleidung.
Wer ihr Wohnzimmer betreten durfte, der erlebte eine ganz eigene wunderbare Welt. Die Möbel ihrer Großeltern, die so
groß waren, dass die Russen sie stehen ließen nach 45. Ein Bild, das ihr Vater aus Frankreich mitgebracht hatte. Männer
und Frauen bei der Getreideernte. Dann die Ahnengalerie. Wunderbare Vasen und Teppiche, Ornamente an den Fensterrahmen,
ein Ölgemälde über der prächtigen Flügeltür. Der kunstvolle Kachelofen, höher als sonst ein normales Zimmer. Die Welt
der Inge Neumann. Die Frage, ob ich die Schuhe ausziehen soll, wäre mir nie über die Lippen gekommen. So etwas tut man
nicht. Man lief ihr nicht einfach nach in ihre kleine Welt, man begann automatisch zu schreiten, der Würde des Raumes
angemessen.
So führte sie ihr Leben in Nähe und Distanz zu ihrer Umwelt. Eine Frau mit einer bewundernswerten Selbstdisziplin, fast
Härte gegen sich selbst, die doch für sich einnahm und ansteckte mit ihrer Freundlichkeit. Wenn sie erzählte aus ihrer
Jugendzeit mit strahlenden Augen und immer heller klarer Stimme. Sie blieb ein Kind ihrer Erziehung, aber nicht isoliert,
sondern sie ging auch mit der Zeit, die ihr unglaubliche Opfer abverlangte, für uns Außenstehenden kaum nachfühlbar.
Das Alter war für Ingeborg Neumann eine Last in vielerlei Hinsicht. Sie mochte das Alter nicht, den Charme und Eindruck
eines alten Gesichtes konnte sie nicht nachempfinden. Pflegebedürftigkeit und Gebrechlichkeit widersprachen ihrem inneren
Stolz. Sie zwang sich zu aufrechtem Gang, Haltung und Würde trotz allem.
Im vergangenen Jahr dann der erste schwere Sturz. Sie kam ins Krankenhaus nach Brandenburg, dann zur Reha nach Lehnin.
Hat sich erholt, hat gekämpft, konnte wieder nach Hause, drehte ihre Runden draußen, mitunter weiter, als es gut für sie
war. Dann immer neue Stürze. Sie wurde schwächer, kraftloser. Dazu die Einsamkeit. Das Telefon klingelte immer seltener.
Alte Freundinnen aus der Jugendzeit und Verwandte, sie waren gestorben. Vor drei Wochen dann war ihr Zustand so kritisch,
dass sie ins Krankenhaus eingewiesen werden musste. Dort ist Ingeborg Neumann in der Nacht zum 3. Adventssonntag eingeschlafen.
Ich wünsche mir, dass wir in Frieden Abschied nehmen von dieser bemerkenswerten Frau. Da ist Erinnerung an ihre ehrliche
Zugewandtheit und Freundlichkeit. Da ist Hochachtung vor der Lebensleistung ihrer Familie. Da ist Unverständnis für eine
Lebensart und ein Standesbewusstsein, das ihr in die Wiege gelegt war und das die Zeit doch längst überholt hatte. Da ist
Mitleid vor einem Leben mit vielen Entbehrungen, mit Anfeindungen von außen, mit Schadenfreude, die sie nicht verdient hat.
Da ist Bewunderung vor einer Frau, die jeder, der das Glück hatte, sie nur ein wenig kennenlernen zu dürfen, einfach nur
gernhaben konnte. Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.
(Christiane Klußmann) (Bilder: C. Schulz, C. Klußmann, D. Grötschel)
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